Orgelumbau 2019: Wie klingt sie?

Die äußere Gestalt einer Orgel, das Gehäuse und die sichtbaren Orgelpfeifen in der Schauseite, sind natürlich nur ein Aspekt dessen, was eine Orgel ausmacht. Ein weiterer, und noch entscheidenderer ist, wie das Instrument klingt. Als Laie möchte man vielleicht annehmen, daß eine Orgel eben wie eine Orgel klingt - oft stehen hierbei die rauschenden Klänge von Mendelssohns Hochzeitsmarsch oder Bachs berühmter Toccata und Fuge in d-moll Pate: alle Register sind gezogen und mächtig wogen die Tonmassen durch den Kirchenraum. Diesen Klang nennt man in der Fachsprache "Organo pleno", also etwa "volle Orgel".

Doch hat sich der Klang der "vollen Orgel" im Laufe der Jahrhunderte auch entwickelt: Mit der Zeit haben sich Klangvorstellungen verändert und damit auch die Art, wie man eine Orgel zu hören wünschte. 

Zu Zeiten Johann Sebastian Bachs zeichneten sich die Orgeln durch ein ausgewogenes Verhältnis von tiefer und höher liegenden Registern aus (die tieferen Register, die sog. Grundstimmen, bilden dabei gewissermaßen das klangliche Fundament, die höheren, die sog. Mixturen, fungieren als Klangkronen und sorgen für Helligkeit und Brillanz), so daß das Organo pleno gleichermaßen gravitätisch wie auch brillant klang: dies ist das Klangideal der sogenannten barocken Orgel des 16. und 17. Jahrhunderts.

Im 18. und 19. Jahrhundert verschob sich der klangliche Schwerpunkt gewissermaßen nach unten: die Vorliebe der Romantik für dunkle, geheimnisvolle Klänge fand ihren Widerhall auch im Orgelbau, so daß Grundstimmen vermehrt und klanglich sehr differenziert gebaut wurden.

Zu allen Zeiten bezog der Orgelbau auch Inspiration von den Instrumenten des Orchesters: so gab es auch in Barockorgeln schon Register mit Namen wie Trompete, Posaune, Viola di Gamba, Traversflöte, etc. In der Epoche der Romantik suchte man aber in hohem Maße nicht nur die Klänge des Orchesters zu imitieren, sondern auch dessen dynamische Flexibilität, d.h. die Möglichkeit zu jeder beliebigen Zeit laut oder leise sowie sämtliche Übergänge dazwischen bruchlos spielen zu können. Hinzu kam, daß durch technische Neuerungen immer größere und ausgefeiltere Orgeln gebaut werden konnten, wie z.B. die Orgel des Berliner Doms aus dem Jahr 1905, die ein Paradebeispiel für ein Instrument mit ausgeprägt orchestralem Charakter darstellt. Komponisten wie Max Reger schrieben die passende Musik für solche spätromatischen Instrumente, deren Organo-pleno-Klang bei aller brausenden Wucht immer auch eine gewisse Vornehmheit an den Tag legte und nie zu aufdringlich wurde.

Wie auch in vielen anderen Lebensbereichen, fand in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auch im Orgelbau ein großer Bruch statt (dessen Entstehung sich allerdings bereits in den 1920er Jahren andeutete): die sogenannte "Orgelbewegung" lehnte die Klangvorstellungen der Romantiker ab und forderte eine Rückbesinnung auf die Musik und den Orgelbau der Barockzeit, weshalb diese Zeit aus Sicht der Kirchenmusik auch als "Neobarock" bezeichnet werden kann. Das Ziel war allerdings nicht eine reine Kopie barocker Musikideale, sondern eine Weiterentwicklung derer im Sinne einer Befruchtung mit modernen Erkenntnissen und Anschauungen. Im Orgelbau dieser Zeit wurde daher auch viel experimentiert, sowohl mit Materialien - Kunststoffe hielten erstmals Einzug in den Orgelbau - wie auch mit Klängen:

neuartige Register wurden erfunden, v.a. im Bereich der Mixturen und der Aliquoten (= "Färberegister", die nicht alleine gespielt, sondern zum einfärben von Grundregistern verwendet werden). Das Klangideal war dem der Romantik völlig konträr: ein schlanker Klang mit wenigen Grundstimmen und sehr starken Klangkronen. Das Organo pleno einer neobarocken Orgel klingt daher mitunter etwas schrill und scharf. Der Komponist Hugo Distler wäre als ein Repräsentant dieser musikalischen Epoche zu nennen. 

Seit etwa den 1980er Jahren kehrte man in Deutschland wieder ab von den Idealen des Neobarock, da die Verwendbarkeit dieser Instrumente sehr auf barocke und neobarocke Musik beschränkt war. Musik der Romantik und deren Instrumente werden heute wieder geschätzt und somit schlägt sich dieses wieder erwachte Interesse auch im Orgelbau unserer Tage nieder: Orgeln des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts werden wertgeschätzt, restauriert und auch wieder gebaut.

Warum, liebe LeserInnen, bemühe ich Ihre Geduld mit diesem Exkurs in die Orgelbaugeschichte? Das hat einen guten Grund: die skizzierten Entwicklungen geben im Allgemeinen genau das wieder, was mit der Orgel der Lukas-Kirche seit ihrem Bau im Jahr 1919 passiert ist.

1919 wurde in der Lukas-Kirche von der renommierten Firma Furtwängler & Hammer aus Hannover ein prachtvolles, spätromantisches Instrument gebaut. Welches 46 Jahre lang, bis zum Jahr 1965 seinen Dienst verrichtete. Zwar wurde diese Orgel durch kriegsbedingte Beschädigungen in Mitleidenschaft gezogen, konnte aber repariert und vollumfänglich wieder hergestellt werden.

1965 war dieses Instrument nicht mehr erwünscht (ebenso wie die originale Ausmalung der Lukas-Kirche) und wurde durch einen (fast schon extrem) neobarocken Neubau von Firma Noeske ersetzt. Wegen Finanzknappheit wurden allerdings große Teile der Windversorgung von 1919 wiederverwendet. Hierin gründet somit ein technischer und ästhetischer Widerspruch, da die Lunge des Instrumentes (also die Windversorgung) für eine romantische Orgel konzipiert ist, die Stimme aber (also die Pfeifen, die ja die eigentlichen Tonerzeuger sind) neobarock klingen sollen. Dieser Widerspruch führte dazu, daß das Instrument in dieser Form nach heutigen Maßstäben nie wirklich überzeugen konnte.

1987, 2007 und 2019 wurden (und werden aktuell) deswegen Maßnahmen an der Orgel der Lukas-Kirche durchgeführt, welche diesen Widerspruch auflösen und dem Instrument eine Identität zurückgeben, mit der Klang, Aussehen und Technik wieder eine harmonische Einheit bilden und es ermöglichen, ein breites Spektrum an Musik überzeugend und ergreifend Klang werden zu lassen. Dabei geht es nicht um eine Rekonstruktion des Zustands von 1919, sondern darum, den gewachsenen Zustand in eine Richtung zu entwickeln, der den Ansprüchen in Gottesdienst und Konzert genügen kann, die unsere Zeit an eine Orgel stellt.